Von der Feuerwehr lernen

Was wir von der Feuerwehr lernen können und warum wir deshalb auch kein BANI Akronym für die Beschreibung von Chaos brauchen.

Ein neues Akronym mit 4 Buchstaben hat das Licht der Welt erblickt. Stephan Grabmeier publiziert in seinem Blog basierend auf einem Artikel von Jamais Cascio die These, dass wir durch die Pandemie (und Klimawandel) nun an der Schwelle zu einer Welt stehen, die von Chaos geprägt ist. Daher soll das Akronym VUCA nicht mehr aussagekräftig sein. Abhilfe wird durch das neue Akronym BANI geschaffen, dass aus seiner Sicht ein auf die neue Situation angepasstes Modell darstellt.

Definition VUKA und BANI

  • VUKA beschreibt eine Umgebung, die durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz gekennzeichnet ist
  • BANI steht für Brittle (brüchig), Anxious (ängstlich), Non-Linear (nicht-linear) und Incomprehensible (unbegreiflich). Aufgrund dessen wird abgeleitet, dass wir in einer brüchigen, ängstlichen, nicht-linearen und unbegreiflichen, oder wie es Cascio formuliert, in einer chaotischen Welt leben.

Gemäß dieser Definition braucht es für mich persönlich das neue Akronym nicht. Damit wird für mich kein Problem gelöst. Es suggeriert mir sogar, dass ich mich scheinbar mit Chaos abfinden sollte. Die Mehrzahl hat sich ja noch nicht einmal mit VUKA beschäftigt.

Chaos im Cynefin Framework

Zudem frage ich mich, ob beide Autoren sich nicht irgendwann mal mit dem Cynefin Framework von David Snowden beschäftigt haben. Das Framework zeigt unter anderem, dass es für jede Kategorie (Einfach, Kompliziert, Komplex und Chaotisch) eine Strategie gibt. Des Weiteren gibt es innerhalb der Kategorien Dynamiken, um beispielsweise von einer chaotischen zu einer komplexen Situation zu kommen. Warum also sich mit Chaos abfinden wollen?


Ein typischer Vertreter für chaotische Situationen sind die Brandeinsätze der Feuerwehr. Ich war über 10 Jahre aktiv in der Feuerwehr und möchte daher aus dieser Perspektive dies beleuchten.

Dabei habe ich mittlerweile festgestellt, dass die Feuerwehr agiler ist als man denkt.

Wusstest Du, dass Löschen gar nicht die Hauptaufgabe der Feuerwehr ist?
Das Leben eines Menschen ist das Wichtigste, so dass Retten immer an erster Stelle steht. Daher ist es im Interesse der Feuerwehr die Situation nicht im Chaos zu belassen. Die Reihenfolge der Aufgaben ist daher wie folgt: Retten – Löschen – Schützen – Bergen

Vom Notruf zum Löschangriff

Wenn ein Brand über die Leitstelle gemeldet wird, erfolgt die Alarmierung der entsprechenden Einsatzkräfte.

Ohne ihn geht gar nichts: Der Gruppenführer

Der Gruppenführer ist verantwortlich für die Brandbekämpfung. Er erhält von der Leitstelle die ersten Informationen gemäß der 5-W Fragen. Auch erst bei Abfahrt des Einsatzfahrzeugs weiß der Gruppenführer, wer bei diesem Einsatz in seiner „Gruppe“ ist.

Jeder Feuerwehrangehöriger absolviert vor Eintritt in die Feuerwehr die selbe Grundausbildung und kann anschließend zusätzliche Ausbildungen wie beispielsweise den Truppführer dranhängen. Jede Spezialisierung wie beispielsweise der Maschinist oder Atemschutz ist in einem Löschzug mehrfach besetzt. Die Gruppe ist somit cross-funktional aufgestellt. Je nach Lage vor Ort arbeiten auch mehrere Löschzuge sowie andere Rettungsorganisationen zusammen.

Verantwortlichkeiten und Aufgaben innerhalb der Gruppe sind klar geregelt

Abhängig von der Ausbildung wird durch den Sitzplatz im Feuerwehrfahrzeug die Rolle für den Einsatz bestimmt. Der Ablauf eines Löschangriffs und die visuelle Kommunikation bei Sichtkontakt ist genormt, so dass jeder genau weiß was er zu tun hat. Dabei werden die Mehrzahl der Aufgaben paarweise als Trupp durchgeführt.

Kontinuierliches Lernen ist ein Muss

Zusätzlich zum hohen Ausbildungsniveau wird in regelmäßigen Übungsabenden das Wissen und die Erfahrung des Einzelnen in der Gruppen immer wieder durch verschiedene Szenarien, die so nah wie möglich an einem echten Einsatz sich orientieren, auf die Probe gestellt. Es gibt auch spezielle Brandcontainer zur Simulation, in dem sogar der gefährliche „Flash over“ (Durchzündung) als Herausforderung wartet. Auch Schauvorführung als Teil der Öffentlichkeitsarbeit gehören zum Alltag dazu.

Ziel ist es auf möglichst viele unterschiedliche Erfahrungen im Ernstfall zurückgreifen zu können. So kann auch jeder bereits in der Jugendfeuerwehr sein Können durch Wettkämpfe mit anderen messen. Von jedem aktiven Feuerwehrmann bzw. -frau ist das persönliche Ziel, nach dem Bronze und Silber Abzeichen auch das sehr anspruchsvolle Goldabzeichen zu erlangen. Durch diese Wettkämpfe und die vielen Rituale mit Übungen werden die Standardaufgaben zur Routine, so dass im Ernstfall auch schneller möglich ist auf Unvorhergesehenes zu reagieren.


Die Zeit rennt

Innerhalb von 10 min nach Alarmierung muss das Einsatzfahrzeug am Ort des Geschehens angekommen sein. Nun muss es schnell gehen. Der Adrenalinspiegel ist bei allen hoch, denn keiner weiß was diesmal auf sie zu kommt.

Die erste Aufgabe des Gruppenführes vor Ort ist es, die Lage zu erkunden. Er verschafft sich ein erstes Bild und erarbeitet sich eine Strategie. Er muss dabei sehr schnell handeln, da das Retten an erster Stelle steht. Dabei muss er unterschiedliche Restriktionen einbeziehen. Dazu können beispielsweise Entscheidung gehören, ob noch weitere Einsatzkräfte nachalarmiert werden müssen oder ob spezielles Material oder Gerät benötigt wird. Abhängig vom Verlauf kann der Gruppenführer sich jederzeit durch zusätzliche Experten beraten lassen, um eine bessere Entscheidungsgrundlage zu haben.

Währenddessen haben sie die einzelnen Trupps gemäß der definierten Rollen ausgerüstet. Gemeinsam warten sie auf weitere Informationen und dem Befehl „zum Einsatz vor“ vom Gruppenführer. Die klare Rollen- und Aufgabenverteilung und die hierarchischen Strukturen (Gruppenführer – Truppführer – Truppmann) tragen dazu bei, dass die chaotische Situation routiniert bewältigt werden kann.

Nach dem Befehl kennt jeder Trupp seine Aufgabe. Jeder Trupp ist für sich selbst verantwortlich und agiert auch selbstorganisiert. Den Gegebenheit angepasst treffen die Trupps ihre eigenen kleinen Entscheidungen und geben dem Gruppenführer regelmäßig über Funk Rückmeldung über die Situation. So ist automatisch jeder über den aktuellen Stand informiert. Der Gruppenführer ist somit schnell in der Lage seine Strategie anzupassen, wenn die Gefahr weiterhin in Verzug ist – bis irgendwann das Feuer endgültig unter Kontrolle ist.

Reflexion: Nach dem Einsatz ist vor dem Einsatz

Zu den Nacharbeiten zählen nicht nur die Materialpflege und Dokumentation, sondern auch die sogenannte Manöverkritik. In dieser wird konstruktiv reflektiert was gut und was weniger gut lief, um aus dieser Erfahrung gemeinsam zu lernen. Dieses Feedback wird auch wieder vom Gruppenführer in eine praktische Übung in der Zukunft umgesetzt.

Auch das gesellige Beisammensein spielt eine große Rolle. Daher wird diese auch häufig gern als „Feierwehr“ bezeichnet. Es werden nicht nur erfolgreich bestandene Abzeichen, sondern jedes Erfolgserlebnis gefeiert – bis zu regelmäßigen Ausflügen oder andere soziale Arbeitseinsätzen. Diese Momente sind besonders wichtig, da im Einsatz jeder für jeden Verantwortlich ist. Dies setzt ein hohes Vertrauen voraus. Es herrscht prinzipiell eine große Kameradschaft und Loyalität untereinander.

Die richtige Taktik macht somit das Chaos beherrschbar

Chaos ist geprägt durch eine hohe Dynamik, in der unter Zeitdruck viele Entscheidungen getroffen werden müssen.

Bei der Feuerwehr wird dies durch klare Regeln und starre Strukturen schnelles Handeln mit Fokus auf das gemeinsame Ziel ermöglicht. Zusätzlich ist die erforderliche Flexibilität durch das selbst organisierte Handeln der einzelnen Trupps, die schrittweise am Brandherd sich dem Ziel nähern, ebenfalls vorhanden. Durch diese Taktik befindet sich die Feuerwehr immer nur am Rand vom Chaos und wechselst zwischen Komplex und Chaos hin und her. Am Anfang ist die Situation aufgrund zu wenig Informationen für jeden noch zu unvorhersehbar. Durch das schnelle Handeln und durch den kontinuierlichen Austausch über Funk ist auf der einen Seite eine hohe Transparenz vorhanden und auf der anderen bekommt der Gruppenführer schnell Feedback, welche Maßnahmen zum Erfolg führt. Das Feuer bleibt in der ganzen Situation ständig das Unberechenbare. Das Denken und Handeln Entscheidungen unter Ungewissheit zu treffen ist auch als Effectuation bekannt.

Der eigentliche Erfolgsfaktor ist allerdings immer noch das ständige Üben und Reflektieren von verschiedenen Situationen nach einem vordefinierten Plan. Hier kann der Gruppenführer in einem geschütztem Umfeld verschiedene Taktiken mit der Gruppe ausprobieren, um auch im Ernstfall durch die richtigen Entscheidungen schnell zurück in die komplexe Situation wechseln zu können.

Zusammenfassend kann aus dem Umgang mit einer chaotischen Situation bei der Feuerwehr mitgenommen werden, dass klare Ansagen und einheitliche Regeln sowie schnelle Entscheidungen mit vielen Feedbackzyklen und eine hohe Informationstransparenz benötigt werden. Zusätzlich zum kontinuierlichen Lernen sind Werte wie Zusammenhalt und Vertrauen aber auch Disziplin wichtig.

Wie sieht es derzeit mit den genannten Werten in unserer Gesellschaft während dieser Corona Krise aus? Die sogenannte Querdenker Bewegung ist hier eher kritisch zu betrachten. Durch ihre Aktionen nähern wir uns eher dem Chaos. Jeder kann mit seinem eigenen Handeln Einfluss nehmen, positiv oder negativ. Deshalb kann ich mich nicht damit anfreunden ein Akronym zu akzeptieren, dass Chaos als Normalität ansieht. Unser Ziel sollte es sein möglichst viele Strategien auszuprobieren und die entsprechenden Werte zu leben, damit Chaos nicht zum Alltag wird.

Tipp: Marcus Raitner hat in seinem Blog „Führung erfahren“ ebenfalls schon im April mit der Einordnung der Pandemie in Cynefin beschäftigt: Cynefin und Corona

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